Erik Thees ist Sachverständiger. Für die Versicherungswirtschaft begleitet der Bauingenieur Menschen aus den Flutgebieten 2021 beim Wiederaufbau. Damit es weitergehen kann, muss erst einmal noch mehr zerstört werden - eine Reportage aus dem aktuellen Naturgefahrenreport des GDV.
Irgendwann an diesem langen, langen Arbeitstag; nach vier von acht Vor-Ort-Besuchen, unzähligen Telefonaten im Auto und einigen Irrfahrten, weil das Navi die von der Flut arrangierte Infrastruktur nicht kennt, irgendwann fragt sich Erik Thees, ob er in seinem weißen Hemd nicht völlig deplatziert sei in all dem Schmerz und Dreck.
Ist er nicht. Das Hemd, über dem er eine signalgelbe Sicherheitsweste trägt, erscheint eher wie ein Zipfel des alten Alltags. Der heilen Welt, die es hier, in Bad Neuenahr-Ahrweiler, seit dem 15. Juli 2021 nicht mehr gibt. Von der heilen Welt werden sie alle sprechen auf dieser Reise. Und sagen „Wir können nicht mehr.“ Zwischen diesen Polen agiert Erik Thees und sagt: „Das wird wieder. Ist jetzt halt viel Arbeit.“
Heile Welt? Die Welt Ende August im Landkreis Ahrweiler ist Dreck, Schlamm, Schutt, Zerstörung. Kein Haus mehr und wenn, dann auf lange Zeit unbewohnbar. Staubige Trinkwassertanks statt Wasserleitung, Dixi-Toiletten. Erst seit wenigen Tagen wieder Strom.
133 Tote. Fast jeder Mensch kennt hier jemanden, der im Wasser bleibt. Eingeschlossen im Keller, überrascht in der Wohnung. Es geht so schnell. So unvorstellbar schnell steigt die Ahr aus ihrem engen Tal. Unvorstellbare Wassermengen, geschätzte 700 Liter pro Sekunde, suchen sich ihren Weg in die Stadt, weiter in die Dörfer. Unvorstellbar. Noch so ein Wort dieser Reise.
Familie K. ist im Urlaub, als der Anruf der Tochter kommt. Das Wasser steht im Vorgarten des Mehrfamilien-hauses. „Räumt den Keller aus“, sagt Frau K. Sie kennen das, 2016 steht das Wasser der Ahr, 500 Meter Luftlinie entfernt, schon einmal im Vorgarten. Kurz darauf erneut ein Anruf. Das Wasser steigt. „Holt die Großeltern raus.“ Weil die Wohnung von innen verriegelt ist, muss die Tochter die Tür aufbrechen lassen, weckt die alten Leute aus dem Schlaf. Raus hier. Keine Zeit mehr, irgendwas zusammenzusuchen. Raus.
Die K.s. leben im Obergeschoss, ihre Wohnung erreicht die Flut nicht. Unter ihnen Ruine. Die Wohnung der alten Leute und anderer Mieter, Büros. Unten schlagen Bauarbeiter den Putz mit Presslufthämmern ab. Der Putz muss runter, damit die Wände trocknen können. Eine Plastikplane soll die Wohnung der K.s. vor dem Staub schützen.
Erik Thees, der Sachverständige, ist zum zweiten Mal bei den K.s. Beim ersten Mal erfasst er den Schaden, legt fest, was wie zu tun ist. Die Spezialisten der Abrissfirma sind seine Empfehlung, sie gehören zum Dienstleistungsnetz der Versicherung. Weil jetzt viele Abrisskräfte gebraucht werden, holen sie ihre Leute aus ganz Europa in die Katastrophengebiete. Die Männer in Schutzanzügen und Maske legen auch die tragenden Balken des Altbaus frei. Denn zu klären ist, ob das Holz erhalten bleiben kann – und damit das Haus. Thees prüft: kein Schimmel, keine Fäulnis. Also: kein weiterer Abriss nötig. Oben, in der Wohnung der K.s., klärt Thees die weiteren Schritte. Unten lärmen die Presslufthämmer, die Feuchtigkeit zieht bis hierher. Wann können die Eltern wieder einziehen? Das ist, bei allen Fragen, die wichtigste. „Ostern“, sagt Thees. Noch acht Monate. Immerhin, es ist ein Termin.
Das Haus der K.s. ist noch nicht lange gegen Hochwasser versichert, fast durch einen Zufall. Sie wechseln die Versicherung, weil sie mit dem Service unzufrieden sind. Der neue Berater empfiehlt dringend entsprechenden Elementarschutz. Jetzt sind die Kosten für Haussanierung, für Mietausfall, für Eigenleistung gedeckt. Wenigstens das ist sicher. Und das ist viel. Auf der Weiterfahrt zeigt Erik Thees auf all die Häuser, in denen nichts geschieht. Spanplatten vor den Fenstern. Nicht versichert. „Das Problem ist der Winter. Dann bleibt nur der Abriss.“
So viele schwere Schäden
So viel zu tun. Für alle. Auch für die Versicherungsunternehmen, die doch eigentlich krisenerprobt sind. Für Katastrophen wie das August-Hochwasser 2002, das Juni-Hochwasser 2013 haben sie Kumulpläne, damit den unzähligen betroffenen Kundinnen und Kunden schnell geholfen werden kann. Diese Flut im Juli 2021, die Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, auch Bayern und Sachsen trifft, bringt auch sie an ihre Grenzen.
Wie funktionieren Krisenpläne, wenn die eigenen Leute und Agenturen überschwemmt sind, nicht erreichbar, weil die Handynetze ausfallen? Wie sollen Menschen Schäden melden, die mit Hubschraubern von den Dächern gerettet werden. Denen es mit den Häusern die Unterlagen wegschwemmt? Die in Notunterkünften landen? „Diese katastrophalen Zustände haben wir noch nicht gehabt“, sagt Benedikt Hoffschulte von der LVM Versicherung. „Ein Kraftakt“, sagt Michael Urban von der R+V Versicherung. Beide Unternehmen sind in den Katastrophenregionen stark vertreten, ihre Kundinnen und Kunden in bisher ungekanntem Ausmaß betroffen. Es sind Tausende sogenannte Großschäden, über 30.000 oder 75.000 Euro. Es sind mehr Totalschäden als bisher gekannt.
In der ersten Zeit, so Hoffschulte, zahlen die Azubis einfach nur Vorschüsse aus, für Kleidung, Nahrung. Auch die R+V zahlt je 10.000 Euro an Soforthilfe für das Lebensnotwendige. Sie organisieren sich, improvisieren auch. Die LVM schickt einen Truck als mobile Agentur ins Katastrophengebiet. Die R+V bietet psychologischen Beistand an. Die Arbeit wird anders verteilt, damit die Großschäden schnell bearbeitet werden können. Bearbeitungsprozesse noch mehr entschlackt. Nicht noch mehr Last und Arbeit jetzt. Nicht den Kundinnen und Kunden noch mehr aufbürden, nicht den eigenen Leuten. Sie arbeiten ja noch an den unzähligen Hagel- und Hochwasserschäden, die die Unwetterserie einen Monat zuvor über Deutschland bringt. Sie arbeiten auch samstags, oft vom Homeoffice aus.
So viele betroffen. Auch die Unternehmen: Hotels mit Totalschaden. Krankenhäuser. Altenheime. Kleine Gewerbetreibende, große Industrien. Banken. Weinbau, Landwirtschaft. All das, was eine Region zum Leben braucht. Es liegt unter den Baggern, bestenfalls unter den Presslufthämmern.
Wieviel verkraften Menschen?
Dazwischen sonst nur die Straße, ein Schwimmbad. Das ist jetzt Schuttplatz, Zufahrtsstraße für die Abrissfahrzeuge. An der Ecke die Suppenküche. Von außen sieht das Haus nahezu unversehrt aus. Drinnen sind nur noch die blanken Mauern, der aufgerissene Fußboden. Der Putz ist ab bis zum Dachboden.
Hier, auf dem Dachboden, verbringen Frau und Herr S. die Flutnacht. Ein paar Sachen können sie noch hochtragen, vom Keller ins Erdgeschoss, dann weiter ins Dachgeschoss. Als das zu gefährlich wird, steigen sie die schmale Stiege nach oben. Verharren die Nacht über in Dunkelheit, ohne Informationen, ohne Kontakt. Unter ihnen nur die Geräusche der Möbel, die das Wasser gegen die Wände schlägt. Immer wieder.
Die beiden wohnen jetzt in einer Wohnung der Bonner Kirchgemeinde, gemeinsam mit einem anderen obdachlosen Paar. „Mit Menschen aus der heilen Welt ginge das nicht.“
Heile Welt
Oben, in den unberührten Weinbergen, geht Frau K. mit den Hunden spazieren. „Verrückt. Die heile Welt ist nur zwei Kilometer entfernt.“
Was ist jetzt zu tun? Mit dem Hochdruckreiniger letzten Dreck und Bakterien rausspülen, sagt Erik Thees. Dann Trockner besorgen. Termine mit Elektrik- und Sanitärfirma machen. Handwerksleute sind jetzt rar, wie Baumaterialien, wie Trockner. Während des Gesprächs bekommt Thees einen Anruf: Trockner sind von einer seiner Baustellen gestohlen. Kupferrohre von einer anderen.
„Nehmen Sie sich eine Bauleitung. Das zahlt die Versicherung“, rät er den S. Sie sind keine Baufachleute. Jetzt müssen sie es sein. Wiederaufbauende. Neben ihren Berufen, in einem improvisierten Leben, mit all den Erlebnissen jener Flutnacht. „Wir sind überfordert“, sagt Frau S., die, wie alle anderen tagelang Schlamm geräumt, all den Hausrat weggeworfen hat. Und dann: „Danke für die Struktur.“
Weiter. Der Arbeitstag hat nur 16 Stunden, die Woche jetzt sieben Tage. Der Nachbar fragt, ob Erik Thees sich kurz sein Haus anschauen kann. Eigentlich wartet der nächste Termin. Thees geht mit nach nebenan.
„Das wird wieder.“, sagt er auch hier. Er weiß, dass es wieder werden kann. Thees ist 1997 an der Oder, 2013 in Deggendorf. Mit jeder Hochwasserkatastrophe lernen die Menschen dazu, sagt er. Dass vor den Trocknern der Putz runter muss, an der Oder. Dass Öl im Mauerwerk nicht saniert werden kann, in Deggendorf. Was im Ahrtal? Der viele, viele Schlamm. Der sich überall festsetzt, selbst unter dem Estrich, und dort hart wird wie Beton. Und dass es solch furchtbare Naturkatastrophen auch in Deutschland geben kann. Als er das erste Mal ins Ahrtal fährt, vier Tage nach der Flut, kommen ihm Panzer der Bundeswehr entgegen. „Panzer? Hier?“
Noch ein zwischengeschobener Termin in einem Kindergarten, der Vorarbeiter dort braucht Thees‘ Rat. Erstmal den Putz raus. Hände weg, da könnte Asbest sein. Beim nächsten Mal nimmt er eine Probe.
Welche Zukunft hat die Region?
Erik Thees steht in einem Hotel, auch das knapp vor dem Totalschaden. Das Wasser verschiebt einen Anbau aus Beton drei Meter weit, flutet den Hauptbau bis auf zwei Stockwerke. Ob er wieder aufbauen soll, fragt der Eigentümer Thees am Telefon: „Werden denn je wieder Gäste kommen?“
Zwischen der Ruine und der Ahr liegen die Blumenbeete des Hotels. Die Stauden blühen wieder.